3. Antisemitismus in Bensheim vor 1938 

Der Aufruf der NS-Führung, die Ermordung des Legationsrats Ernst vom Rath zu rächen, traf auch in Bensheim auf eine jahrelang vorbereitete Stimmung, wie die nachfolgenden Beispiele aus dem lokalen Umfeld zeigen:

Ein sehr frühes Zeugnis belegt, dass bereits 1920 antisemitische Flugblätter in Bensheim verteilt wurden: In einem Schreiben von Eduard Beger, Herausgeber des Bergsträßer Anzeigeblattes, an die „verehrliche Stadtverordnetenversammlung“ vom 4.Februar 1920 heißt es:

„… Tatsache ist, daß Herr Schönbohm im November v. Js. das B.A. um Aufnahme einer stark judenfeindlichen Erklärung als bezahltes Inserat ersuchte!

Tatsache ist, daß die Redaktion des Bergstr. Anzeigeblattes mit Schreiben vom 1. Dez. v. Js. die Aufnahme solcher und ähnlicher Inserate ablehnte, weil sie – wie sie an Herrn Schönbohm wörtlich schrieb – aus Prinzip auch gegen Bezahlung ein Inserat oder einen Artikel nicht aufnehme, der den Burgfrieden einer Stadt, wie Bensheim, stört und in weiteren Erklärungen der Gegner Veranlassung geben muss. Wir sind gewohnt unseren Lesern, zu denen alle Konfessionen zählen, durch Kundgabe von Ansichten eines Einzelnen nicht unnütz aufzuregen.“

Schönbohm verteilte in Bensheim ein Flugblatt.

Er setzte 500,- Mark Belohnung für den jüdischen Kantor Müller aus, wenn dieser seine kürzliche Behauptung beweise, daß Herr Schönbohm der Führer der Bensheimer Antisemiten sei!

„ … ich erhebe Einspruch auch gegen die ganze öffentl. Tätigkeit des Herrn Sch., die sich in letzter Linie als eine gemeingefährliche antisemitische Hetze darstellt.

Eduard Beger

Stadtv. Zegewitz macht auf die antisem. Agitationen durch einen Herrn Schönbohm aufmerksam und bittet um Schutz für die jüdischen Mitbürger. Die Stadtverordnetenversammlung missbilligt die antisemitische Hetze.“[1]

In Bensheim begannen bereits am 7.3.1933 nationalsozialistische Säuberungsaktionen. Das Volkshaus, welches den dort ansässigen Arbeitervereinen als Vereinslokal diente, wurde nach dem Reichstagsbrand am 27.3.1933 von der Bensheimer SA besetzt und verwüstet. Zu dieser Zeit fanden auch die ersten Verhaftungen statt. Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und Antifaschisten wurden umgehend in das Konzentrationslager Osthofen bei Worms gebracht, welches Mitte März in einer ehemaligen Papierfabrik eingerichtet worden war.In Osthofen fing Auschwitz an“, ist treffend ein Artikel des Bersträßer Anzeigers vom 11. November 1991 überschrieben, der die „moralische Indifferenz“ einer großen Mehrheit der Deutschen für die weitere Eskalation „insbesondere des rassistischen Terrors“ verantwortlich macht. „Die Funktionäre des industriell organisierten Völkermords an den Juden Europas konnten auf diese moralische Indifferenz später rechnen.“[2]

Am 30. März 1933 betraten in Bensheim SA-Leute jüdische Geschäfte und befahlen deren Schließung. Bereits einen Tag darauf berichtete das Bergsträßer Anzeigeblatt:

„Gestern Vormittag wurden auch in Bensheim die jüdischen Geschäfte geschlossen, da durch das erregte Volk eine Gefahr für Ruhe und Ordnung bestand. Die jüdische Greuelpropaganda, der Boykott deutscher Waren und die Verfolgung deutscher Volksgenossen im Ausland hat die Bevölkerung in höchste Erregung gebracht. ...Als die Erregung gegen die jüdischen Einwohner immer mehr wuchs, blieb nichts anderes übrig, als mehrere Juden in Schutzhaft zu nehmen. Sie wurden dem Amtsgerichtsgefängnis zugeführt, wo sie vorerst bleiben.“[3] Bei der Schließung und Boykottierung jüdischer Geschäfte führten die SA- und SS-Leute Schilder mit sich, auf denen unter anderen stand:

·Für Deutsche gibt´s nur eine Pflicht, kaufe bei den Juden nicht.“

·Deutsche Hausfrau, denk daran, was Dir der Jud schon angetan.“

·Futter für das liebe Vieh, kauf bei einem Juden nie.“

·Eisenwaren, Werkzeug, Draht, der Christ auch zu verkaufen hat.“[4]

Von der Schließung betroffen waren unter anderem die Geschäfte und Firmen Adler, Bacherach & Jakob, Bendheim, End, Grünstein, Haas, Zacharias, Jakobi, Reiling, Rosenfelder, Schade & Füllgrabe, Sternheim, Thalheimer & Marx und Wolf.[5]

Ab dem 1.April 1933 wurden ebenfalls die Zeitungen überwacht. Diese sollten sich an den antijüdischen Aktionen der NSDAP beteiligen. Falls sie sich deren Anweisungen widersetzen sollten, drohte ihnen die Verbannung aus deutschen Heimen.[6]

Ebenfalls fand am 1. April 1933 ein Protestmarsch der Nazis vom Gymnasium in der Darmstädter Straße (heutige Kirchbergschule) zum Markplatz statt. In der anschließenden Kundgebung hielt der NSDAP-Kreispressewart Karl Kraft eine antisemitische Rede vom Balkon der Apotheke. Sinngemäß sagte er, dass vor 2000 Jahren die Juden Jesus ans Kreuz genagelt hätten und dass das gleiche Schicksal auch heute dem deutschen Volk drohe.[7]

(Bergsträßer Anzeigeblatt vom 1.April1933)

Etwa im Jahre 1933 wurde bereits eine Postkarte hergestellt, welche unter anderem die Synagoge, das Gebäude der Englischen Fräulein (heutige Liebfrauenschule), den Stadtturm und den Kirchberg zeigt. Nur kurze Zeit später gab es eine Variation dieser Karte, in der das Gebäude der Synagoge bereits weg retuschiert worden war!

Die Synagoge war von der jüdischen Gemeinde von Bensheim im Jahr 1892 auf dem

Gelände zwischen der Brauerei Guntrum und der Brücke, die die Grundstücke der

Englischen Fräulein in der Nibelungenstraße verbindet, erbaut worden. Nach 1933 wurde

die Synagoge, lange vor ihrer Zerstörung, auf der Postkarte wegretuschiert.

Dies veranschaulicht einmal mehr den verordneten Judenhass der Menschen zur damaligen Zeit.

Gefördert wurden diese Tendenzen durch Anzeigen und meinungsbildende Artikel, in Bensheim vor allem durch das „Bergsträßer Anzeigeblatt“, das in seinen Beiträgen auch massiv gegen die Tendenzen eines Konkurrenzblattes (des später verbotenen „Starkenburger Boten“) polemisierte. Die nachfolgende Auswahl von Anzeigen und redaktionellen Beiträgen ist dem früheren Bensheimer Stadtarchivar Diether Blüm zu verdanken.[8]

Bergsträßer Anzeigeblatt vom 21.März 1935

(BA 9. 2. 1935)

Bereits weit vor der Pogromnacht gab es massive Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger in Bensheim. Zum Verhalten des Ortsgruppenleiters Fischer heißt es in einer gerichtlichen Feststellung:

„Am 10. Oktober 1935 besuchte der Angeschuldigte seine in Bensheim wohnenden Eltern. Am Abend dieses Tages fand im Hotel ‘Deutsches Haus´ ein Kameradschaftsabend der SS statt, an dem der Angeschuldigte teilnahm. Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung blieb er noch mehrere Stunden mit einigen seiner früheren Kameraden aus der Kampfzeit zusammen. Während dieser Zeit nahm der Angeschuldigte grössere Mengen Alkohol zu sich. Gegen 2 Uhr nachts verliess der Angeschuldigte zusammen mit dem SS-Sturmbannführer Riebel das ‘Deutsche Haus´. Beide liessen sich bewegen, anstatt sofort nach Hause zu gehen, wie sie es beabsichtigt hatten, einige SS-Männer auf ihrem Nachhauseweg zu begleiten. Als der Angeschuldigte und Riebel auf dem Rückwege gegen 4 Uhr an dem Anwesen

des Juden Salomon Marx, Moltkestraße 9 vorbeikamen, erinnerten sie sich des früheren Kampfes der Juden in Bensheim gegen die N.S.D.A.P. und beschlossen, dem Juden Marx als dem Führer der jüdischen Gemeinde in Bensheim ein ‘Ständchen´ zu bringen. Sie zerstörten die vor dem Hause Marx stehende Strassenlaterne. Dann rissen sie einen 22 Meter langen Zaun des Marx aus dem Mauerwerk und beschädigten die Eingangstür. Dabei wurde auch das Anwesen des ehemaligen Stahlhelmers Carstanjen, Moltkestraße 7, mit Steinen beworfen. Gegen 4 .20 Uhr legten sie den Gartenzaun des Juden Max Rosenstein, Heidelberger Straße um, drangen dann in die Garage des Juden ein und beschädigten mit Zaunlatten den dort stehenden Kraftwagen des Rosenstein. Dabei gab einer von ihnen auch einen scharfen Schuss durch das Garagenfenster ab. Wenige Minuten später beschädigten sie den Gartenzaun des Anwesens Schwabacher und warfen mit Backsteinen gegen das Haus. Auch an dem Anwesen Heyum und Hahn wurde Sachbeschädigung vorgenommen.“

(...)

Über Fischers Zerstörungswerk hat die Gestapo ermittelt:

„3.45 Uhr: Steine gegen Fenster und Dach Carstanjen.

4 Uhr Salomon Marx: Straßenlaterne vollständig demoliert, 22 m langen stabilen Gartenzaun (4 Felder) aus Mauerwerk herausgerissen, Eingangstür total beschädigt.

4.20 Uhr: Max Rosenstein, mit Latten, die vom Zaune Marx stammten, Kraftfahrzeug „erheblich beschädigt. Durch das Garagenfenster wurde von einem Täter ein scharfer Schuss abgegeben.4.30 Uhr: Gartenzaun des Hundezüchters Schwabacher in Auerbach erheblich beschädigt. Mit Backsteinen gegen das Haus geworfen. Sachbeschädigung bei dem Metzger Heyum und bei Hahn in Auerbach, „Auf das Anwesen Hahn wurden zwei Schuß abgegeben.

Ortsgruppenleiter Fischer der zusammen mit Heinrich Riebel in dieser Plünderungsaktion gegen Weisungen der NSDAP-Führung verstießen und vorübergehend von der Mitgliedschaft in der Partei ausgeschlossen worden waren, ergänzte über die Vorgänge Folgendes:

„Am 10. Okt. 1935 fand in Bensheim im Hotel zum Deutschen Haus ein Kameradschaftsabend der SS statt. Hierzu war auch der ehemalige Kreisleiter von Bensheim, Fischer, der z. Zt. In Gießen beruflich tätig ist, erschienen. Wir saßen dann bis gegen 3 Uhr nachts zusammen und erzählten aus der Kampfzeit, wo wir beide auf der Straße Schulter an Schulter gekämpft haben. Wir verließen dann um die besagte Zeit das Hotel zum Deutschen Haus und begaben uns in Richtung Auerbach nach Hause. Als wir an einem Platz angelangt waren, wo Anfangs 1933 noch eine der gefürchtetsten Straßenschlachten tobte, wurden wir hieran erinnert und sprachen davon, dass auch hier die Juden die Geldgeber und Drahtzieher des vorgenannten Tumultes und Aufstandes gewesen waren. Fischer erinnerte mich noch, wie eine Kugel, die mir gegolten hatte, einen Reichsbannermann neben mir traf. Durch diese Unterhaltung und den vielleicht etwas zu viel genossenen Alkohol und die ganze Stimmung in der wir uns befanden, steigerte sich unsere Erbitterung gegen die Juden momentan derart, dass wir in einen gewissen Sinnesrausch zu der von uns nachträglich sehr bedauerten Tat schritten. [9]

Louise Samstag, geb. Renner [10], die frühere Hausgehilfin der Familie Rosenstein berichtet hierzu:

"Ich war von 1931 bis zur Übersiedlung der Familie Rosenstein nach Darmstadt im Dezember 1935 dort als Hausgehilfin beschäftigt. Die Familie bestand aus dem Ehepaar Rosenstein und drei Kindern. Es waren sehr fromme und strenggläubige Juden, die ein ruhiges und zurückgezogenes Leben führten. Herr Rosenstein war ebenso wie seine Frau sehr fleißig, anständig und bescheiden. Ich habe in den vier Jahren meiner Tätigkeit niemals einen Anlass zur Klage gehabt. Nach der Machtergreifung durch die NSDAP setzten schon bald die Belästigungen und Beleidigungen der Familie durch Auerbacher SA- und SS-Leute ein. Das Rosensteinsche Haus in der Darmstädter Straße 85 lag sehr einsam inmitten großer Gärten, sodass wir den Angriffen, die stets zur nächtlichen Stunde erfolgten, ganz wehrlos ausgesetzt waren. Die Nachbarn (...) konnten oder wollten unsere Hilferufe nicht hören und selbst telefonische Anrufe bei der Polizei blieben ohne Wirkung, da diese gegen die NS-Leute nicht vorgehen wollte. Ich erinnere mich genau, dass wir im Sommer 1935 beinahe allnächtlich belästigt wurden. Den Einbruch in Herrn Rosensteins Garage und die Zerstörung seines Autos durch den SA-Mann Fischer und den SS-Mann Riebel habe ich als Augenzeugin miterlebt, die Demolierung eines eisernen Gartenzaunes war, wie ich mich genau erinnere, Pfingsten 1935. Die Lage wurde schließlich unhaltbar, weil Herr Rosenstein vor allem für das Leben seiner drei Kinder fürchten musste. Ich erinnere mich genau daran, dass wir längere Zeit hindurch jede Nacht auf den Speicher flüchteten, weil wir uns dort sicherer fühlten als in den Wohnräumen, deren Fensterscheiben häufig eingeschlagen wurden. Von den 3 Kindern ging eines in die Bensheimer Volksschule [11], während die zwei älteren die höhere Schule in Darmstadt [12] besuchten. Ich musste die Kinder jeden Morgen zum Bahnhof bringen, da es für sie unmöglich war, sich ungefährdet auf der Straße blicken zu lassen. Nachdem auch Frau Rosenstein[13] selbst eines Tages in Bensheim auf offener Straße von Nationalsozialisten angespuckt und als Jüdin beschimpft worden war, war das Leben für die Familie unerträglich geworden und Herr Rosenstein beschloss, nach Darmstadt überzusiedeln.

Zu den von Herrn Rosenstein gemachten Angaben bezüglich der Höhe seines Einkommens erkläre ich, dass die Familie in gut bürgerlichen Verhältnissen gelebt hat. Ich halte die Angaben für wahrheitsgemäß, auch wenn ich natürlich keinen Einblick in die Geschäftsbücher gehabt habe.“[14]

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[1] Bergsträßer Anzeigeblattvom 4. 2. 1920.
[2] Mattheiß, Uwe: „In Osthofen fing Auschwitz an“, in: Bergsträßer Anzeiger vom 11.11.1991.
[3] Bergsträßer Anzeigeblatt vom 1. April 1938.
[4] Ebd.
[5] Ebd. 
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Blüm, Diether: Beiträge zur Geschichte der Bensheimer Juden. In: Beilage zum Bergsträßer Anzeiger Nr. 48 vom 30. Mai 1987 (ohne Seitenangabe).
[9]Ebd., S. 87.
[10] Louise Renner wurde am 18. April 1909 in Lörzenbach geboren. Seit 8. Dezember 1934 ist sie gemeldet: Adolf-Hitler-Straße 85, dem Wohnhaus Rosenstein, als Hausmädchen. Am 30. Dezember 1935 verzog sie nach Lörzenbach. Am 30. August 1939 heiratete sie in Bensheim Heinrich Samstag. Louise Samstag verstarb am 18. März 1984 in Heppenheim.
[11] Gerhard Rosenstein besuchte die 1892 eingeweihte evangelische Volksschule in der Wilhelmstraße, in der sich heute das Jugendzentrum befindet. Siehe: Fleck, Peter: Beiträge zur Geschichte des Bensheimer Schulwesens. Von der Reformationszeit bis zum Ersten Weltkrieg. Bensheim 1989, S. 75-77; Blüm, Diether: Bensheimer Schulhäuser im Wandel der Jahrhunderte. Bensheim 1992, S. 55.
[12] Ernst Zeno war bis zum Jahre 1935 Schüler des Gymnasiums Bensheim.
[13] Max Rosenstein heiratete seine Frau Sophie, geb. Bendheim, * 5. August 1898 in Bensheim, Y18. Januar 1986 in Oakland, CA, Tochter von Zodick (Zacharias) Bendheim (1860-1922) und Johanna Löwenthal (1868-1925), am 15. September 1921 in Bensheim (Angaben nach Blüm, Beiträge zur Geschichte der Bensheimer Juden, Nr. 23 vom 7. Januar 1987 sowie Mitteilung von Gerald B. Rosenstein).
[14] HStA Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 20587: Entschädigungsakte Max Rosenstein.