Die „Reichskristallnacht“ 

In der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst ist 1957 eine Schrift zum ,9. November 1938' erschienen. Darin heißt es auf Seite 41:

„Auch die zum SS-Sturmbann Darmstadt gehörenden SS-Einheiten wurden zum Pogrom befohlen, so der SS-Sturm Bensheim, der die Bensheimer Syna­goge zerstörte und nach der vollständigen Zertrümmerung der jüdischen Wohnungen und Geschäfte in Bensheim Aktionstrupps bildete und sie in die umliegenden Dörfer schickte (z. B. Reichelsheim, Auerbach). Doch waren dies Ausnahmen."

Die SS hatte nämlich Befehl erhalten, sich nicht an den Ausschreitungen zu beteiligen. Die Aktion gegen die Juden sollte der SA vorbehalten bleiben, um deren, seit der Kampfzeit stark verblichenes Ansehen, wieder etwas aufzu­frischen.

In Bensheim nahm die Aktion gegen die Juden im einzelnen folgenden Ver­lauf: Nachdem aus Darmstadt der Befehl zu einer Aktion gegen die Juden gekommen war, telephonierte der Sturmführer der Bensheimer SS an einige Angehörige seines Sturmes: „Die Judenwohnungen sind zu Schrott zu ma­chen. Geld und Wertpapiere sind sicherzustellen und abzuliefern!" Die Inbrandsetzung der Bensheimer Synagoge organisierte der Bensheimer SS-Sturmführer persönlich. In derselben Nacht vom 9. zum 10. November 1938 hatte auch die Bensheimer SA Weisung erhalten, die Aktion gegen die Juden zu eröffnen. So holte der SS-Sturmführer zusammen mit vier SA-Leuten eine große Kanne Brennstoff aus seiner Garage. Diese Kanne wurde abwechselnd von den vier SA-Leuten in den frühen Morgenstunden des 10. November bis zur Synagoge getragen. Die äußere Tür zur Synagoge wurde aufgedrückt, die innere Tür von dem SS-Sturmführer mit einer Axt eingeschlagen. Sodann wurden die Bänke im Innern zusammengetragen und eine Art Scheiterhaufen errichtet, auf den drei Teppiche und weiteres Mobiliar geworfen wurden. Als das Ganze in Brand gesetzt wurde, waren bereits mehrere Zuschauer zugegen. Das Bergsträßer Anzeigeblatt schrieb dazu:

„Brand in der Synagoge. Heute früh brannte in der 7. Morgenstunde die hiesige Synagoge vollständig aus. Bereits nach 5 Uhr will man den Brandgeruch be­merkt haben, ohne aber festzustellen, ob und wo es brenne. Als gegen 6.30 Uhr die Feuersirene ertönte, zeigte mächtiger Rauch den Brandherd an. In kurzer Zeit war der Innenraum des Hauses ein einziges gewaltiges Feuerwerk. Sehr rasch fing der Dachstuhl an, in Flammen aufzugehen. An eine Rettung des Ge­bäudes war nicht mehr zu denken. Man beschränkte sich auf den Schutz der Nachbargebäude. Haushoch schlugen die Flammen aus dem Dach des Ge­bäudes. Und nach kurzer Zeit brachen die Dachsparren zusammen. Mit dem Abflauen des Brandes trat das Ablöschen und Sichern ein; die Feuerwehr war ständig tätig, eine weitere Ausdehnung des Brandes abzuhalten." 

Gegen Mittag des 10. November formierte sich in Bensheim eine Kolonne von etwa zehn Autos, die mit SS-Leuten besetzt waren. Sie fuhren in den Odenwald, um dort, wie sie sagten, keine Jüdische Gemeinde verschont zu lassen. Vor allem galt diese Aktion jedoch Reichelsheim. Dort wurde die Inbrandsetzung der Synagoge von Bensheimer SS-Leuten ausgelöst mit Unter­stützung einheimischer SS. Die Juden wurden aus den Wohnungen geholt. Vor der Synagoge wurde ein Scheiterhaufen errichtet. Alle greifbaren jü­dischen Bücher wurden darin verbrannt. Die zusammengetriebenen Juden mußten sich an den Händen fassen und wurden von den SS-Leuten und an­deren zu einem Reigen um das Feuer angetrieben. Ein jüdischer Bürger, der schutzsuchend zur Gemeindeverwaltung laufen wollte, wurde von einem SS-Mann niedergeschlagen. Wohnungen wurden demoliert. Ein prominenter SS-Mann hielt vom Balkon eines angrenzenden Hauses herab eine wilde Rede.

Gegen 16.00 Uhr kehrten die Autos nach einer Zwischenrast im Cafe Bauer in Lindenfels nach Bensheim zurück.

In Bensheim setzten nach Rückkehr der SS-Leute Aktionen gegen jüdische Wohnhäuser ein. Das Haus des jüdischen Bürgers Götz in der Darmstädter Straße wurde nun verwüstet, die gesamte Inneneinrichtung zerschlagen. Dabei waren sechzig bis hundert Personen anwesend. Im Haus Marx begann die Verwüstung, nachdem ein SS-Mann mit einem Stuhl einen Glasschrank ein­geschlagen hatte. Das Wüten dauerte dort etwa zwanzig Minuten. Vor dem Bankhaus Bauer und Rosenfelder wurden die Geschäftsakten verbrannt, auch ein Ölgemälde dabei vernichtet. Der SS gelang es nicht den Kassenschrank der Bank zu öffnen, daraufhin schweißte die Bensheimer Polizei den Schrank auf. Unterdessen tranken die SS und SA Leute gestohlenen Wein und rauchten Zigarren. Insgesamt wurden in Bensheim nach offiziellen Angaben die Wohnungen der jüdischen Bürger: Salomon Marx, Bernhard Marx, Bankhaus Bauer, Isidor Marx, Familie Götz und Familie Moss zerstört. Nachweislich geschahen aber noch andere Ausschreitungen. So wurde z. B. in der Haupt­straße das Mobiliar der 88jährigen Frau Wolf zum Fenster hinausgeworfen und auf dem Marienplatz vor der Mittelbrücke verbrannt. Frau Wolf rief zum Fenster hinunter: „Verbrennt doch die Betten nicht, gebt sie den Armen."

In Auerbach wurde das Haus Frank beschädigt, sowie das Haus Hahn und Israel. Das Haus Löb wurde aufgebrochen. Das Geschirr wurde unter An­wesenheit der Bewohner zerschlagen. Als Herr Löb dem Treiben wehren wollte, wurde er niedergeschlagen. Er lag blutüberströmt in der Küche und trotz der weinend und hilferufend dabeistehenden Ehefrau warf nun ein SS-Mann alles noch vorhandene Geschirr Löb auf den Kopf.

Ein anderer SS-Mann aus Bensheim betrieb die Aktion gegen die Juden in Einhausen. Man jagte dort die Familie Lösermann aus dem Haus. Einem Juden wurde dabei mit einem Hammer ins Genick geschlagen. Auch war der betreffende SS-Mann bei der Inbrandsetzung der Synagoge in Lorsch beteiligt. An all diesen Aktionen, die bis in die Abendstunden andauerten, beteiligte sich auch in starkem Maße die Öffentlichkeit, selbst Frauen und Kinder wur­den wahrgenommen.

Am Abend des 10. November kehrten einige Bensheimer SS-Leute noch ein­mal nach Reichelsheim zurück, wo erneute Ausschreitungen und Mißhandlun­gen stattfanden. Einige SS-Leute hatten sich teilweise Wertgegenstände aus jüdischen Häusern angeeignet, die man noch 1945 sicherstellen konnte.

Dazu schrieb das Bergsträßer Anzeigeblatt:

„Empörung schafft sich Luft. Der Mord an dem deutschen Gesandtschaftsrat vom Rath und die daraus entstandenen Geschehnisse des gestrigen Tages haben die Psyche des deutschen Volkes in eine gewaltige, durch die grenzen­lose Gemeinheit der verabscheuungswürdigen Tat hervorgerufene Erregung versetzt, die sich am gestrigen Tag zu einer Psychose steigerte, wie sie Deutschland seit langer Zeit nicht empfunden hat. Auch Bensheim wurde durch diese unselige Tat bis ins Äußerste aufgewühlt. Es herrschte - und das nicht nur in Bensheim, sondern auch in den Nachbarorten und in allen Dörfern des Krei­ses Bergstraße und seiner Umgebung - eine Stimmung, die an die ersten Zeiten der Bewegung und Erhebung erinnerten. Als gestern die Synagoge in Flammen aufging, da mußte dies als ein Ausbruch der Stimme des Volkes erscheinen, als solche erkannt und verstanden werden, war es doch ein gewalt­samer Ausdruck der Empörung über jene schamlose, gemeine Tat eines Men­schen, der rassenmäßig nicht zum deutschen Volk gehört, der aber durch sein Verhalten dieses Achtzigmillionenvolk auf das schwerste beleidigte. Wenn dadurch nun dieses Volk zu Vergeltungsmaßregeln gegriffen hat, die hart in die Erscheinung getreten sind, so ist das für die Beurteilung verständlich. Die •deutsche Regierung hat sofort Vorschriften erlassen, die unbedingt zu be­folgen sind und die auch einen Einfluß auf die Erregung der Volksmassen ausüben werden."

Am 7. November 1938 hatte ein 17-jähriger polnischer Jude namens Grün­span den Legationssekretär vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris er­schossen, Grünspan bezeichnete diese Tat angeblich als einen Racheakt für die an seinen Glaubensbrüdern in Deutschland verübten Greueltaten. Die Tat des jungen Polen gab den formellen Anlaß zur ,Reichskristallnacht'. Die Vergeltungsmaßnahmen sollten den Charakter einer spontanen Volkserhe­bung annehmen, deshalb wurden die Ausschreitungen von SS- und SA-Leuten in Zivilkleidung inszeniert. Eine scharfe antisemitische Propagandahetze setzte ein. In den folgenden Novembernummern des Bergsträßer Anzeigeblattes sind jeden Tag etwa zwei Seiten dieser Hetze gewidmet. Wieviele Menschen damals in Bensheim den Mut hatten, die Ausschreitungen dennoch als ein himmelschreiendes Unrecht zu bezeichnen, kann man nicht feststellen. Sicherlich lehnten viele Einwohner, der einst so toleranten Stadt, das ihren jüdischen Mitbürgern zugefügte Unrecht, zumindest im Innern ab.

Vom 13.- 16. Juli 1948 fanden die Sitzungen des Landgerichts Darmstadt statt, in denen die Bensheimer ,Kristallnacht' behandelt wurde. Insgesamt wurden dabei 24 Personen verurteilt. Elf der Angeklagten stammten aus Bensheim, zehn aus Auerbach, einer aus Schönberg, einer aus Gernsheim und ein weiterer aus Darmstadt. Einige, der an den zehn Jahre zuvor geschehenen Ausschreitungen Beteiligten, waren gefallen oder nicht verhandlungsfähig. Die verhängten Strafen reichten von zwei Jahren und drei Monaten Zucht­haus bis herunter zu drei Monaten Gefängnis. Neun der Angeklagten wurden freigesprochen. Die Mehrzahl der Angeklagten versuchte ihre Schuld zu ba­gatellisieren. Ein junger Angeklagter aber bekannte sich ohne Umschweife zu seiner Tat. Er bereute ehrlich seine damalige Haltung und zeigte damit, daß er wirklich einen inneren Gesinnungswandel vollzogen hatte“.

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