Die jüdischen Opfer

Zum Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Bensheim stellt Pfarrer Dr. Ludwig Hellriegel fest:

„Das heißt also, obschon man vielerorts friedlich nebeneinander lebte, wenn man auch dem jüdischen Viehhändler half, wenn bei ihm eine Kuh kalbte (die berühmte dörfliche Nachbarschaftshilfe), bei der jeder Streit und jede Abneigung vergessen werden) man war sich nicht grün. Wirkliche Freundschaften zwischen Juden und Christen blieben selten. Wenn junge Leute sich über diese unsichtbaren Schranken hinwegsetzten und heirateten, dann gab damit der Jude meist sein glaubensmäßiges Erbe auf. Das Zusammenwirken von fremdem religiösem Brauchtum, fremder Sprache, meist auch besonderem Beruf und selbst beim Sprechen des Deutschen noch spürbarer Eigenart (Mauscheln) hat Barrieren geschaffen, die trotz des Bemühens von jüdischer Seite, Bürgerrechte zu erlangen, sich der Lebensart des Volkes, unter dem man lebte, anzupassen, sich zu assimilieren, die unüberwindbar blieben.

(...)

Aber es gab in meiner Heimatstadt, obschon Familie Thalheimer eine Gastwirtschaft betrieb, keine eigentlichen Freundschaften zwischen jüdischen und christlichen Familien. Ich habe deshalb Verständnis dafür, daß heutige ältere Menschen in einer kleinen Stadt oder gar in einem Dorf nur sehr wenig Auskunft geben können über ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn. Es hat bestimmt niemand geahnt, was sich im Jahr 1940 in dem alten Haus in der Hintergasse zu Bensheim zutrug.“[1]

Ein anschauliches Beispiel für die Integration jüdischer Mitbürger in der Zeit vor 1933 bietet Dr. Felix Lehmann, bei dessen Tod folgender Nachruf im „Bergsträßer Anzeigeblatt“ veröffentlicht wurde:

„Der Stadt Bensheim ging dieser Tage die Nachricht zu, daß der Arzt Dr. med. Felix Lehmann, Israel, vielen Bensheimern noch in bester Erinnerung, verstorben ist. Dr. Lehmann wurde 1880 in Stettin geboren, 1916 zog er nach Bensheim. Er ließ sich hier als praktischer Arzt nieder und ist bei den alten Bensheimern als vorbildlicher, jederzeit hilfsbereiter Arzt und Geburtshelfer in bester Erinnerung. Seine Patienten wohnten in Bensheim, Zell, Gronau, Schönberg, auch in Reichenbach praktizierte er. Dr. Lehmann hat sich insbesondere sehr für die ärmeren Einwohner der Stadt eingesetzt und hat diese in vielen Fällen unentgeltlich behandelt. Dr. Lehmann war als Arzt Teilnehmer des 1. Weltkrieges. 1935 mußte er Bensheim verlassen und wanderte nach Palästina aus, da die damaligen Machthaber ein weiteres Wirken in Bensheim nicht mehr zuließen. Die Stadtverordnetenversammlung hat im Jahre 1966 ihm in Anbetracht seiner besonderen Verdienste um die Stadt und ihre Bürger die Silberne Ehrenplakette verliehen. Dr. Lehmann hat sich über diese Ehrung sehr gefreut und hat in einer Dankadresse an die Stadt angegeben, dass er trotz all dem Schweren, das die dreißiger und vierziger Jahre für ihn und seine Frau brachten, das alte Bensheim nicht vergessen werde. Der Magistrat der Stadt Bensheim hat der Witwe des Verstorbenen in einem Schreiben die aufrichtige Teilnahme ausgesprochen. Die Stadt und ihre Einwohner werden den Verstorbenen sicher nicht vergessen und ihm ein ehrendes Andenken bewahren.[2]

Hans Sternheim über Dr. Lehmann: „Einer der letzten Vorstände war Dr. med. Max Lehmann, ein streng orthodoxer Jude, in dem säkulares Wissen und strikte Jüdischkeit sich harmonisch vereinten. ... Wenn Dr. Lehmann, der Helfer der Ortsarmen insbesondere, die Segenssprüche beim Thora-Aufruf sagte, dann flutete ihr Klang wie ein `kiddusch haschem´ durch unsere Synagoge. Im Andenken dieses Mannes, der hochbetagt in Israel entschlummerte, ruht die dankbare Erinnerung an alle Mitglieder dieser Gemeinde, die im Dienste Gottes arbeiteten[3]

Sternheim in einem Brief an Bürgermeister Kilian:

„Ihre Worte, gerichtet an einen verdienten ehemaligen Bürger Bensheims, Dr. Lehmann, und die Erwähnung seiner Gattin im Rahmen Ihrer Ansprache vom 23. August 1966 haben mich berührt. – Der Vorgenannte war für lange Zeit unser ärztlicher Beistand, und ich erinnere mich sehr gut – wir waren damals gerade `auf Besuch´ von Stuttgart bei meinen Eltern, als er meiner kleinen Tochter – heute die Mutter von vier Kindern und Gattin von Universitätsprofessor Dr. Norbert Isenberg – einen Splitter aus dem Händchen entfernte. – Er steht auch aus der Ersten Weltkriegs-Zeit noch gut vor meinem geistigen Auge, als er als Militärarzt in Bensheim wirkt und ich – damals noch ein Schüler des Gymnasiums – selbst so manchen verwundeten deutschen Soldaten vom Lazarettzug auf Tragbahren ins Lehrerseminar brachte. – Das war damals unser Schülerbeitrag zum Kriege...“

Nach Dr. Felix Lehmann ist in Bensheim ein Weg benannt.[4]

Familie Sternheim/Thalheimer und Clara & Louis Spanier, Wilhelmstraße 49/Hintergasse 17

Die Familien Thalheimer und Marx waren sehr wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Bensheim. Sie betrieben eine Bekleidungsfabrik und ein Konfektionshaus (das spätere „Modehaus Bergstraße“).
Manasse Thalheimer, 1800 geboren in Offenbach, stellt 1836 einen Antrag auf Bürgeraufnahme in Bensheim (war dort bereits ansässig, hatte über 4500 Gulden Vermögen und ein Attest über „gute Aufführung“, daher die Aufnahme), eröffnet in Bensheim ein Textilgeschäft und kauft (1855) in der Vorstadt ein Haus und heiratet Cäcilie Rosenbaum, geboren 1811. Sein Geschäft macht im November Konkurs und seine Ehefrau führt das Geschäft unter dem Namen „C. Thalheimer“, bis sie es am 31.12.1860 an ihren Sohn Hermann übergibt. Der Sohn Moritz hatte sich bereits 1845 und 1846 von der „M. Thalheimer und Comp.“ distanziert.
 

Kinder:

·N.N., geboren vor 1836.

·Moritz, geboren vor 1836.

·Wilhelm Hirsch, geboren in Bensheim 5. Mai 1837, gest. 15. November 1864, ertrank im Rhein. 

·Gerson, geboren in Bensheim 18. November 1839. 

Hermann Thalheimer, geboren am 13. Mai 1833 (beim Geburtseintrag der Tochter 1875),
Sohn d. Manasse Th. und. d. Cäcilie Rosenbaum, gest. 26.Oktober 1891, baut den kleinen Textilladen der Mutter seit 1800 erfolgreich aus und führt bald ein in Bensheim renommiertes Geschäft. 
„In den 90er Jahren des 19. Jh. war die Mützenfabrik von Herrmann Thalheimer sehr erfolgreich[5]

Die Bekleidungsfabrik in der Fehlheimer Str. 10-12 wurde 1905, als die Brüder Marx als Teilhaber aufgenommen wurden, durch Heinrich Metzendorf wesentlich erweitert, 1913 auch das Nachbarhaus Nummer 14 erworben und repräsentativ umgebaut. 

[6]

Belegschaft der Firma Thalheimer (um 1910; mit dem Pfeil gekennzeichnet: Max Thalheimer)[7]

Am 17. Juni 1863 (Antrag auf Heiratsgenehmigung an den Stadtvorstand April, Trauung Darmstadt 24.Juni) heiratet Hermann Thalheimer Emma Baumgarten, geboren in Odenkirchen 30. November 1836, gest. 19. Juni 1919, Tochter des Moses B., und der Bella Stern.
Sie hatten sechs Kinder, von denen 1877 als Schüler genannt werden: Amalie, Max, Helene. Diesen wurde 1933 der diskriminierende Zusatz "Israel" bzw. "Sara" beigefügt:

·Rosalie, geboren 23. Februar 1864. 

·Amalia, geboren 2.3.1865. 

·Maximilian, geboren 16. Juli 1866. 

·Jakob, geboren 1867, gest. 1868. 

·Heinrich, geboren u. gest. 1868. 

·Clara, geboren in Bensheim am 10. Mai 1872, gest. 1943, verheiratet mit Louis Spanier aus Lemgo, wohnte seit 1904 in Bensheim, Wilhelmstr. 49, sie wohnte seit 1941 Hintergasse 17 („Juddeschul“), wurde am 17. Oktober 1943 deportiert und in einem KZ ermordet. Sie starb am 8. April 1943 im KZ Theresienstadt.[8]

·NN (Tochter), geboren (tot) 22. Juli 1875.

·Bertha, geboren am 4. Juni 1878, zwölf Tage später gestorben. 

·Helene, geboren am 12. Juli 1870 in Bensheim. Sie heiratete Rudolph Sternheim, geboren am 25. Juli 1875 in Ergste/Westf. Auch sie hatten Kinder:

Hans Sternheim wurde am 22. November1900 in Heidelberg geboren. Von Beruf war er Schriftsteller und Journalist und als solcher hat er viel über Bensheim geschrieben. Hans Sternheim verzog 1923 nach Frankfurt/Main, 1924 nach Mannheim. In Heidelberg studierte er 1925 zwei Semester lang. Am 28. Februar 1927 zog er nach Stuttgart, Kasernenstraße 13 und heiratete am 6. März 1927 Else Osterberg, geboren am 20. Juni 1901. Mit seinem Schwiegervater Max Osterberg wurde er Verleger und Redakteur der "Gemeindezeitung für die israelitische Gemeinden Württembergs". Am 10. November1938 wird er verhaftet und nach Dachau deportiert. Die gemeinsame Tochter Edith Isenberg, geboren am 28. April 1930 in Stuttgart, wanderte 1939 mit in die USA aus. Hans Sternheim starb am 18. Dezember 1983 in einem Altersheim in Wisconsin; seine Frau am 12. November 1986 in Racine, Wisconsin.[9]

Hans Sternheim[10]

Sternheim, Hilde, geboren 27. Januar 1909 in Hagen, war Schülerin in Bensheim und zog 1921 nach Hagen zurück. Rudolph und Helene Sternheim geb. Thalheimer lebten in der Straße der SA, der heutigen Wilhelmstr. 49. Das Haus wurde im Jahre 1906 von Karl Wingefeld erbaut, im Jahre 1910 an Peter Krenkel verkauft. Rudolph Sternheim erwarb es im Jahre 1918. Im Jahre 1940 ging es an Katharina Blüm über und 1952 an Elisabeth Martin.[11]

[12]
Rudolph und Helene Sternheim[13]

Clara Spanier war die Schwester von Helene, lebte dort als Verkäuferin in Untermiete und leitete viele Jahre die Verkaufsstelle der Thalheimer Mützenfabrik in der Bensheimer Hauptstraße.

Clara Spanier[14]

Familie Sternheim und Clara Spanier waren ebenfalls von den damaligen Judenaktionen betroffen. Ende 1938 stellte die Familie Antrag auf Ausreise nach Amerika. Dieser wurde Mitte 1940 abgelehnt. Wie alle damals noch in Bensheim lebenden Juden wurden sie 1941 in das Haus Hintergasse 17 (wo sich die vorletzte Synagoge befunden hatte) verbracht. Zwar weist die offizielle Meldekarte aus: "15 .12.1941 nach Breslau verzogen", aber letztlich wurden die Genannten am 28.09.1942 mit dem Transport XVII/I, 1251, 1252 und 1253 ins Konzentrationslager Theresienstadt bei Prag gebracht. „Und so schleppten sich dann nach dem Versöhnungstag des Jahres 1942 (25 September) drei alte Leutchen, den Judenstern auf der Brust, zur Deportationsstelle. `Thalheimers Lenche´, in Bensheim geboren, sagte mit Gatten und Schwester einer Heimat Lebewohl, die es nicht gut mit ihnen gemeint hatte[15] Dort starben Clara Spanier am 08. April 1943, Helene Sternheim am 23. Mai 1943 und Rudolph Sternheim am 29. Mai 1943 den Hungertod.[16]

Hans Sternheim schreibt u.a.:

"Diese Erinnerungen schildern die Jahre meiner Eltern Rudolf und Helene Sternheim, geb. Thalheimer auf deutscher Erde und in der bitteren Fremde. Wie wohl ich mir bewusst bin, dass ein Gedenkblatt für sie allein keinen Platz finden könnte in der Leidensgeschichte der deutschen Juden, die doch so viele Tausende umschließt ... Wenn ich denn meiner Eltern hier gedenke, so umschließt meine trauernde Rückerinnerung gleichzeitig alle Toten unserer Gemeinschaft.
Mein Vater wurde in dem kleinen Dörfchen Ergste in Westfalen geboren, wo schon seine Vorväter zur Welt gekommen waren. In der alten Reichsstadt Worms entwickelte sich die schlichte Liebe des Westfälingers mit seinem präzisen hochdeutschen Dialekt zu dem süddeutschen Judenmädchen, das ein unverfälschtes `Bensheimerisch´ sprach. Das hinderte den jungen Liebhaber aber keineswegs, seine Zuneigung in bestem Deutsch auch schriftlich zum Ausdruck zu bringen.
Als mein Vater 1914 zum Militär eingezogen, jedoch später wegen Krankheit wieder entlassen wurde, da bewies er als Zivilist, dass er ein ganzer Mann und Patriot war. Fast während des ganzen Weltkrieges arbeitete er als freiwilliger Krankenpfleger in einem Militärlazarett in meiner Heimatgemeinde Bensheim an der Bergstraße. Vom einfachen Gefreiten bis zum Oberarzt; jeder brachte dem jüdischen Helfer, der mit seinem gepflegten Bart und seinen klugen Augen beinahe selbst wie ein Doktor aussah, Dankbarkeit und Hochachtung entgegen.

Auch die geschäftliche Tätigkeit meines Vaters erhielt durch Pflichtgefühl und Freundlichkeit ihr Gepräge. Viele seiner Kunden aus dem Westen Deutschlands waren nicht nur Abnehmer, sondern auch gute Freunde, die manchen Sommertag in meinem Elternhaus als Gäste verbrachten. Das alles liegt nun so weit zurück, allein es gehört zum Charakterbild eines aufrechten Mannes.
Meine Mutter war in ihrer Geburtsstadt Bensheim überall bekannt und beliebt. Für die
Bevölkerung war sie `Thalheimers Lenche´, und noch in meinen Studienjahren habe ich diese trauliche Ansprache gehört. Sie hatte alle die grundlegenden Eigenschaften ihrer Eltern geerbt. Gottesfurcht, Fleiß und Bescheidenheit waren die Marksteine ihres Charakters, der sie dazu befähigte ein echtes `esches Chajil´ zu werden. Ihr Leben gehörte ihrem Gatten, mir und ihrer Familie. Für sich selbst hatte sie keine Ansprüche; allein, wenn man sie brauchte, war sie mit ihren bescheidenen Mitteln zur Stelle. (...)

Aber im November 1938, als unsere Synagogen brannten und auch ich von den Häschern der Gestapo ergriffen wurde, da wurde aus mir eine Nummer nur. Damals stand ich mit 10000 Juden und 5000 Deutschen als Häftling des `Dritten Reiches´ auf dem Appellplatz von Dachau und fror in meiner gestreiften Kluft mit dem gelben Davidstern auf der Brust im Eiswind, der von den Alpen kam. Wir alle wurden von warmbekleideten SS-Männern wie Edelsteine gezählt, und wehe, wenn dem Kommandanten gemeldet werden musste, daß die menschliche Gesamtbilanz nicht stimme. Dann standen wir durch eine Nacht wenn es sein mußte, bis die fehlenden `Schutzhäftler´ gefunden wurden. Sie mochten auf ihren Pritschen gestorben oder zu krank gewesen sein, um sich zum Appell zu schleppen.

Eines Abends klang ein mich anmutender Dialekt an mein Ohr. Er kam von einem deutschen Häftling der benachbarten Barackenstube, und er mag schon seit Jahren in Dachau gewesen sein. Da er sich gut geführt hatte, wurde er zu einem `Kapo´ gemacht, der die Verantwortung für Ordnung und Disziplin trug. Ich nahm mir ein Herz, nahm stramme Haltung an und sagte zu dem Mann: `Darf ich Sie fragen, Herr Kapo, woher sie kommen?´ - Antwort: `Ich bin von Meenz´. Meine Erwiderung: `Ich bin von Bensheim.´- Der Kapo: `So, vun Bensem bisch’de!´- Und das war das ganze Gespräch.

Eines Morgens wurde ich vom Lautsprecher mit einigen anderen vor die Front des riesigen Menschenquadrats gerufen. Ich hatte Grund genug, anzunehmen, daßmeine letzte Stunde gekommen war. Da standen der Lagerkommandant mit seinem Stab – alle geschniegelt und gebügelt -, und einer davon hielt eine Liste in der Hand. Und plötzlich sah ich den Kapo, mit dem ich erst vor kurzem gesprochen hatte, einen Schritt von mir entfernt. Tränen der Erregung standen in meinen Augen als ich sagte: `Herr Kapo, ich bin der von Bensem! Was wird mit uns geschehen?´ Es war eine Frage über Sein oder Nichtsein! Und da kam ein beinahe amüsiertes Lächeln in des Mannes Gesicht, und er sagte: `Ei, du werschd entlasse, du Idiot!´

Dies war das letzte Wort, das ich in Dachau hörte. Am Nachmittag stand ich, auf den Zug nach Stuttgart wartend, auf einem Bahnsteig in München in meinen Zivilkleidern. Mein Blick fiel auf ein großes Plakat des Deutschen Tierschutzvereins, in dem den Bauern angeraten wurde, ihre Pferde mit Decken vor der Winterkälte zu schützen. Aber nur wenige Kilometer entfernt, standen Gottes Kinder – Deutsche und Juden – auf der eisigen Erde des Konzentrationslagers, wo der Name ihres Schöpfers entweiht wurde.

Landsmann von `Meenz´: Ich hoffe, daß du zu den Lebenden dich zählen darfst. Ich nehme an, daß du ein Sozialdemokrat warst und in Dachau dafür zu büßen hattest. 1942 mag man dich entlassen und als Soldat in die Eiswüste von Stalingrad geschickt haben, wer weiß? Aber ich habe nimmer die Zeit vergessen, wenn du, ein Deutscher, vor einem vorbeigehenden SS-Schnösel dein `Krätzchen´ abzunehmen hattest, so, wie es die Stimme eines anderen Deutschlands war, in der du zu dem Schutzhaft-Juden No. 23122 gesprochen hast. Es ist mein ehrlicher Wunsch, daß du deine Alterstage in Gesundheit verbringen darfst und daß das KZ oder der Krieg für dich nur böse Träume geworden sind.“ [17]

In einem Brief an Ludwig Hellriegel ergänzt Hans Sternheim:

„Meine Eltern wohnten zuletzt mit meiner Tante, der obigen Clara Spanier Wwe, geb. Thalheimer, in Hintergasse 17. Von dort wurden alle drei am 25. September 1942 nach Theresienstadt in der Tschechoslowakei deportiert, wo sie dem Hunger ungefähr 6 Monate später erlegen sind. Ich besitze die amtliche Todesurkunde der tschechosl. Regierung mit Ankunftstag in Theresienstadt, Transportnummer usw., zwei Rote Kreuzbotschaften, das letzte was ich von meinen Lieben hörte, sind vom Jahre 1942. Eine Auerbacher Jüdin, die mit einem Christen verheiratet war, brachte mir im Auftrag meiner Lieben noch einige Andenken, als sie mit ihrem Gatten nach dem Kriege in Amerika einwanderten. Meine Eltern hatten geglaubt, dass diese in Mischehe lebende Jüdin verschont bliebe. Auch diese Frau kannte das Deportationsdatum meiner Lieben ganz genau! Den vollen Wahnsinn dieser deutschen Geschichtsperiode mögen Sie auch daran ersehen, dass diese Freundin meiner Eltern von ihrem christlichen Manne getrennt und etwas später ebenfalls in das KZ Theresienstadt überführt wurde. Allein, sie überlebte. Dies ist unzählige Mal geschehen, und ich allein kenne zwei weitere gleichgelagerte, absolut verbürgte Fälle.“ [18]

Nach der Auswanderung von Hans Sternheim und seiner Familie waren Briefe oft das einzige Bindeglied der Familienmitglieder untereinander. Der folgende Ausschnitt eines Briefes von Rudolph und Helene Sternheim vom 9. November 1941 belegt sehr anschaulich die Stimmungen und Gefühle kurz vor der Deportation nach Theresienstadt.
„Eben war Rosenfelder bei mir, ich zeigte ihm Euer Foto u. las ihm Euren Brief vor, worüber er sich sehr freute, seine Edda ist nämlich sehr schreibfaul. Die Grüße von Euch erwidern Rosenfelders recht herzlich. Es ist tatsächlich ein Glück für uns, daßdiese Leute bei unswohnen, sie wissen nicht, was sie uns tun sollen u. besonders hängt Frau Rosenfelder sehr an der l. Mutter, wo sie nur kann, ist sie der l. Mutter behilflich. Wir sind ja auch täglich (oft stündlich) zusammen u. jeden Abend von 7 bis ½ 10 Uhr. Rosenfelders sind wie wir noch sehr gottesfürchtig, was mich besonders zu ihnen hinzieht. Wie Ihr schreibt, ist Grete Thalheimer von Köln wieder in ihrem Laden, was schafft der Mann denn? Daß Ihr dieselben nicht nachläuft, habt Ihr ganz recht, ich würde es genau so machen, die Grete hatte immer einen solch dummen Dünkel. Daß Ihr l. Kinder an den schönen Ferientagen von früher oft gedacht habt, kann ich Euch lebhaft nachfühlen, es geht uns genau so, man hat es nicht zu würdigen gewußt u. heute zehrt man an die schönen Tagen, die wir zusammen verlebt haben. Dass wir Euer Leben gerne mit Euch teilen würden, bedarf keiner Frage, selbst mit dem Allerbescheidensten würden wir uns gerne begnügen, wenn wir nur wieder bei unseren Kindern sein könnten, das ist unser tägliches Gebet.“

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[1] Privatarchiv Hellriegel, Ordner Bensheimer Juden, Manuskript eines Vortrages vor der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit Mainz, 1989.
[2] Undatierter Presseartikel. Dr. Felix Lehmann verstarb am 25.9.1967. Siehe auch HStA Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 20590: Entschädigungsakte Dr. Felix Lehmann. 
[3]Sternheim, „Ach wie liegt so weit – was mein einst war ...“ In: Jahresbericht 1971/1972 AKG Bensheim, S. 149.
[4] Brief an Bürgermeister Kilian vom 11. Dezember 1966. Siehe: Köster, Rudolf: Die Namen der Bensheimer Straßen, Wege, Plätze und Passagen. Von A – Z erläutert. Bensheim 1996, S. 44: „Felix-Lehmannn-Weg (Weststadt. Nach dem sehr beliebten jüdischen Arzt Dr. Felix Lehmann in Bensheim, der 1935 nach Jerusalem auswanderte
[5] Lehsten, Lupold von: Zur Geschichte der Juden an der Bergstraße. Bensheim 1993-2001. S. 48.
[6] Hellriegel, Martin: Bensheim in alten Ansichten. Zaltbommel/Niederlande 1989, Nr. 48.
[7] Archiv der Stadt Bensheim, Fotoarchiv 41/22.
[8] Theresienstädter Gedenkbuch. Prag 2000, S. 751.
[9] Der Nachlass von Rudolph und Helene Sternheim befindet sich im Leo-Baeck-Institut New York. Hans Sternheim hat eine Kopie seiner Memoiren, die sich in weiten Teilen auch auf Bensheim beziehen, dem Archiv der Stadt Bensheim überlassen. V. Lehsten ordnet irrtümlich das Verhaftungs- und Sterbedatum Hans Sternheims dessen Ehefrau Else Osterberg zu (Lehsten, Lupold von: Zur Geschichte der Juden an der Bergstraße. Bensheim 1993-2001 (Die Familie Thalheimer, S. 49).
[10] Fotoarchiv der Stadt Bensheim, 41/17.
[11] Archiv der Stadt Bensheim, Brandkataster.
[12] Ergänzungen zum antifaschistischen Wegweiser Teil II, S. 8.
[13] Fotoarchiv der Stadt Bensheim, unsigniert.
[14] Ergänzungen zum antifaschistischen Wegweiser Teil II, S. 18.
[15] Hans Sternheim, zitiert nach: Ergänzungen zum antifaschistischen Wegweiser Bensheim 1933-1945, Teil 2, S. 8.
[16] Theresienstädter Gedenkbuch. Prag 2000, S. 750 f. Insgesamt 1780 Personen wurden am 28. September 1942 von Darmstadt aus nach Theresienstadt deportiert. Davon sind 1198 umgekommen, 89 wurden befreit. Ebd. S. 79.
[17]Erinnerung und Betrachtung. Ein Rückblick in die Vergangenheit. Von Hans Sternheim. In: Bergsträßer Anzeiger vom 20. Mai 1976.
[18]Privatarchiv Hellriegel, Ordner Bensheimer Juden. Brief von Hans Sternheim an Ludwig Hellriegel vom 18. Januar 1965.